Und wenn man es braucht, hat man es nicht dabei
Distanz: 22.3km + 13.9km
Dauer: 4:29h + 2:39h
Durchschnittsgeschwindigkeit: 5.0 km/h + 5.3 km/h
Temperatur: 22 Grad + 24 Grad
Viehzäune: 53 + 21
Was für ein Tag. Heute war der Tag der zweiten Transferetappe. Das bedeutet mehr als 30 Kilometer in zügigem Tempo. Doch der Morgen startet mit unserer bereits gewöhnlichen Routine. Aufstehen: zuerst Julia, etwa ¾ Stunden später ich. Eincremen mit Sonnencreme (Schutzfaktor 50 – ja ich mach alles, damit ich keinen Sonnenbrand mehr bekomme). Packen des Daypacks. Wobei ich bei der heute anstehenden Strecke darauf achte, dass ich „unnötiges“ Zeugs nicht mitnehme. Sackmesser – nee, will doch kein Picknick machen (kommt nicht mit). Taschenlampe – man kann nie wissen, wie lange man laufen muss (kommt also mit). Grosser Regenschutz – immer gut (kommt mit). Kompass – immer gut (kommt mit). Schnelle Regenpelerine, um sich schnell für ein, zwei Stunden vor Regen zu schützen – nee (kommt also nicht mit). Wasser – viel (immer gut). Ich baue also meine Gewichtslast tatsächlich etwas ab… Julia achtet sich nicht so drauf. Sie lässt einfach die Regenhose für heute mal in der Reisetasche. Sonst bleibt bei ihr alles wie gehabt!
Dann geht es zum Morgenessen. Vom Frühstücksraum haben wir einen traumhaften Ausblick auf Richmond (inkl. Auf die Kirche, die gestern Abend von 20 bis 21 Uhr ununterbrochen geläutet hat – ohne erkennbaren Grund. Hat dazu geführt, dass ich sogar auf BBC nachgeschaut habe, ob etwas Schlimmes passiert sei, z.B. Die Queen gestroben ist). Neben uns sitzen die Australier, die wir bereits am Tag vorher beim Frühstück kennengelernt haben. Sie sind nett – aber eben: Sie nehmen viel Platz ein, besonders im Gespräch). Unsere Essenswünsche, die wir gestern Abend aufgegeben hatten, haben geklappt! Um 08h45 gehen wir auf die Strecke – kurz nach den Australiern. Wir beschliessen, dass wir den Tag mit ein paar extra Kilometern anfangen und laufen um das Schloss, so dass ich noch ein paar schöne Bilder machen kann. Das Schöne heute: der Weg ist zumindest am Anfang mal mit guten, wenn auch nur für Leute die das heilige Gelübte der Schafe abgelegt haben erkennbaren Zeichen ausgestattet. Nicht nur das ist gut, auch dass der Weg heute praktisch keine Höhenmeter zu verzeichnen hat. Ein gutes Omen für uns, um Gas geben zu können. Kurz nachdem wir Richmond verlassen haben, fängt es leicht an zu regnen. Es kommt uns ein Mann entgegen, der uns prophezeit, dass wir heute nass werden. Meine Pelerine habe ich, wie schon erwähnt, nicht mitgenommen – leider! Julia zieht ihre Regenjacke an, ich belasse es bei meinem Tschäppi. Wir haben Glück und der unbekannte Prophet hatte nicht recht: nach etwa einer halben Stunde hörte der Regen auf und sogar die Sonne belgeitete uns auf dem heutigen Weg nach Ingleby Cross. Unser heutiger Weg führte mal durch kleine Wäldchen und immer wieder führte er über Felder. Das ist aber wahrscheinlich nicht so, wie ihr euch das vorstellt. Es ist ein kleiner Pfad vorgefertigt. Links und rechts davon sind verschiedene Getreidesorten oder auch Bohnenpflanzen, die so hoch gewachsen sind, wie Julia gross ist. Mit den Armen nach oben gestreckt, da wir beide im T-Shirt laufen, schlängeln wir uns durch die Felder. Es hat zudem ganz viele kleine schwarze Käfer und sonstige Insekten, die um uns herumfliegen und schwirren. Bei Julia sitzt auch mal eine kleine Raupe in den Haaren, nachdem wir aus einem der vielen Felder rauskommen. Nicht nur wir haben eine Abneigung gegen die Insekten. Auch die Bauern in dieser Gegend verspüren keine Freude, wenn wir Wanderer auf ihren Feldern unterwegs sind. Auf grossen Schilder wird bekannt gegeben, wie man sich verhalten soll, Stacheldrahtzäune und elektrische Zäune markieren teilweise den Weg, sodass wir ja nicht ihre Felder zertrampeln.
Nach ungefähr 15km fängt mein rechter vorderer Fussballen wieder an zu Schmerzen. Ich habe das Gefühl, dass mein Socken nicht ganz glatt an der Haut lag und Falten warf. Daher öffnete ich erneut meinen Wanderschuh und war erstaunt, kein einziges Fältchen am Socken festzustellen. Etwas störte aber doch und schmerzte auf die Dauer. Klar war, dass ich so wahrscheinlich bis am Nachmittag grosse Probleme bekommen würde. Also: Schuh untersuchen. Am Schuh war nichts festzustellen – glatt wie ein Babypopo. Dann widmete ich mich der Sohle. Ich habe extra etwas speziellere Sohlen in meinen Wanderschuhen, die den Fuss nach vorne drücken und so auch bei längeren Touren dafür sorgen, dass der Fuss stabil im Schuh bleibt. Diese Sohlen haben zu diesem Zweck eine Plastikverschalung von der Ferse bis ungefähr dort, wo mein Schmerz begann. Übeltäter also gefunden. Sofort hatte ich einen Plan. Zurückschneiden der Plastikverschalung um ein paar Millimeter mit meinem… oh, verdammt. Da war doch was. Mein Sackmesser war nicht in meinem Daypack… Hilfesuchender Hundeblick an Julia mit der scheuen Frage, ob sie ein Sackmesser dabei hat und es mir leihen könnte. Ihr Antwort: „ob ich ein Sackmesser dabei habe, weiss ich nicht. Aber ich habe eine Schere dabei“. In meinem Kopf hallen noch die Worte wieder: „eine Schere.“ Ok, ich war mega dankbar für die Schere. Ich konnte meine Sohle entsprechend zurückschneiden und so meinem rechten Fuss wenigsten bis am Abend die notwendige Entspannung geben. Aber wer um himmelswillen nimmt in einem Daypack, für 37km Marsch (wandern war das ja heute kaum) eine ausgewachsene, vollfunktionsfähige Schere mit? Am Abend habe ich dann mit meinem Sackmesser, die komplette Verschallung von den Sohlen gelöst. Zudem werde ich ausprobieren, ob ich mit den Sohlen meiner ON-Schuhe, die ich sowieso noch dabei habe, nicht sogar besser fahre (oder bzw. laufe). Anmerkung Julia: Warum ich eine Schere dabei habe? Gute Frage! Ich brauche eine gut funktionierende Schere, um mein Tape zuzuschneiden. Für was brauche ich Tape? Einerseits tape ich ja mein Knie und bin froh, dass ich etwas auf Reserve dabei habe. Andererseits kann Tape sehr nützlich sein. Letztes Jahr auf dem West Highland Way hat sich plötzlich die Sohle meines Wanderschuhs mitten in einem Waldstück gelöst. Ich konnte dann für ein paar Kilometer, die Sohle mit Tape am Schuh festmachen. Tape kann man somit für alles gebrauchen!
Auf dem Weg habe ich immer wieder Zeit meinen Gedanken nachzuhängen. Dann kommen mir sehr oft die verschiedensten Musikstücke in den Sinn. Heute waren das vor allem Stücke aus Opern und aus Disneyfilmen. Warum gerade diese beiden Kategorien kann ich nicht sagen. Ich beschloss auch Julia daran teilzuhaben. Und so kam es, dass ich das Ende der Overture von Rossinis Guillaume Tell (Wilhelm Tell) auf voller Lautstärke auf meinem Natellautsprecher laufen liess. Wer diese nicht kennt, wird sie erkennen, wenn er sie hört. Der beste Soundtrack für das Rennen durch Wiesen und Wälder. Später gab es noch „Heiho“ aus Schneewittchen und die sieben Zwergen und Colonel Hatichs Marsch aus dem Jungelbuch als musikalische Untermalung. Ich hätte gerne noch etwas mehr Musik laufen lassen. Ich habe mir auch extra vor der Abreise eine gute, wasserfeste, neue Powerbank wiedermal zugelegt, weil wir das Natel auch viel zum navigieren brauchen und ich trotzdem auch erreichbar sein muss (will?), aber der Akku nicht mehr so gut ist. Das Problem, dass ich heute aber festgestellt habe: Die beste Powerbank bringt absolut überhaupt nichts, wenn man sein Iphone-Ladekabel nicht in seinem Daypack hat. Also ehrlich: Das nächste Mal schleppe ich mein gesamtes Gepäck täglich mit. Dann habe ich sicher immer das, was ich gerade brauche.
Nach 4 ½ Stunden erreichen wir Dansby Wiske. Eigentlich Tagesziel, wenn man es gemütlich nimmt. Grosse Vorfreude überkommt uns: Endlich Kaffee (für Julia) und ein Sandwich (für mich). Wainwright schrieb in seinem Buch, dass es hier nichts, aber auch gar nichts zu sehen oder erleben gab. Für uns gab es etwas zu erleben, wenn auch anders als gedacht. In diesem wirklich sehr kleinen Städtchen, welches dann auch das letzte Örtchen für die nächsten 14km war, gibt es nur ein Pub. Wir treffen um 13h45 ein – zur besten Mittagszeit also. Doch dieses [hier steht ein Fluchwort] Ding hat geschlossen! GESCHLOSSEN! G E S C H L O S S E N! Wir können es kaum fassen, zumal man drin hört, dass einer Radio hört und telefoniert. Wir setzten uns jedoch trotzdem auf die Bank vor dem Pub und beginnen unsere Vorräte aufzufuttern. Ich wende mich meinen Kitkats zu und Julia probiert ihr Assortiment von verschiedenen Powerrieglen aus. Nach nun 9 Tagen hat Julia so langsam ihre Favoriten erkoren und möchte noch vor der Abreise einen Grosseinkauf tätigen. Unsere lange Pause wird daher um ein Vielfaches kürzer. Und mein Bestand an Kitkats ist faktisch aufgebraucht. Wir beschliessen, dass wir den Weg damit bestrafen, in dem wir im Verlauf des weiteren Nachmittages keine wirkliche Pause mehr machen, sondern das Tempo gar noch ein bisschen weiter Erhöhen, um es dann in Ingleby Cross richtig krachen zu lassen. Als wir in absoluter Höchstform aufliefen, hatten wir teilweise eine Geschwindigkeit von über 6km/h drauf. Wir liefen im Stechschritt unserem Ziel entgegen.
Heute war nicht nur der Tag der „Überquerung von Feldern“, sondern auch der Tag der „Überquerungen von anderem möglichen Zeugs“. Dazu gehört sicher die M1, wobei wir die unterquert haben. Regelmässige Leser von unserem Blog wissen, dass wir ja auf unserer ersten Tranferetappe die M6 als eine von zwei wichtigen Verkehrsadern zwischen England und Schottland überquert haben. Heute war mit der M1 die andere wichtige Achse daran. Dazwischen liegt ja bekannt die Yorkshire Dales, die ich nach meinen Erfahrungen der letzten Woche als gebirig einstufen würde. Plötzlich macht das alles richtig Sinn mit den Wegen durch dieses Land. Wir haben auch zwei Bahnlinien unter, bzw. überquert. Das wäre ja eigentlich nicht sehr erwähnenswert, aber: Die Überquerung einer Bahnlinie findet irgendwo in der tiefen Pampa statt. Man geht über eine Art Steg direkt zu den Geleisen. Dort ist ein Warnschild angebracht, auf dem nichts anderes steht als „luege, lose, laufe“, zwar auf englisch, aber genau so wie wir das im Kindergarten gelernt haben. Dann stehen wir dort, horchen, schauen links, schauen rechts. Keine Züge kommen. Wir laufen über die beiden Geleise auf der anderen Seite wieder eine Art Steg hoch. Wer jetzt sagt, dass da sowieso nie ein Zug kommt, dem sei mitgeteilt, dass wir nach ca. 300 Meter einen richtig grossen Güterzug hinter uns über die Geleise donnern sehen. Zudem haben wir heute so viele Viehzäune durchquert wie noch an keinem andern Tag. Dabei durften wir die ganze Palette von möglichen Querunsmöglichkeiten ausprobieren. Kuhgitter, Einzeltüre, Tore, Gruppentüre und die immer beliebten zwei Trittquerung. Bei der 13. Querung am Nachmittag kommen wir nicht aus dem Staunen raus. Ein Schild warnt uns „Beware of the witch“. Am Haag sind Skelete, Spinnen und Ratten aus Gummi angebracht (die Ratte sagt sogar noch war). Weiter hinten hängt eine kleine Eule noch am Zaun. Wirklich ein wenig gruselig. Sobald man dann den Fuss auf den Holzbalken gesetzt hat, um den Zaun zu überqueren, fing ein Tonband, das in der Eule eingebaut war, an zu singen. Auch ein wenig gruserlig ist die letzte Querung am Tag: Wir dürfen über eine „Hauptstrasse“ gehen. Wobei Hauptstrasse hier mit der Autobahn bei Delsberg gleichzusetzen ist. Die Autos und Lastwagen donnern mit ungefähr 100 Sachen auf jeweils zwei Spuren in beide Richtungen heran. Wir haben Glück: Schnell kommt es zu einer Lücke. Wir rennen bis zur Mitte, wobei unser heutiges Tagesziel in Sichtweite und somit 37km in unseren Knochen stecken. Dann holen wir Luft und rennen ein zweites Mal. Glücklich erreichen wie die andere Seite.
Zu unserem Tagesziel ist es dann nur noch ein kleiner Katzensprung von ein paar hundert Metern. Unsere Gastgeberin war völlig verblüfft, als wir bereits um 16h50 bei ihr vor der Türe stehen. Sie hätte gedacht, dass wir später ankommen. Dennoch werden wir sofort in den Wintergarten geführt. Sie fragt nach Kaffee und Tee und verschwindet dann erst eine Weile, um mit Krügen der beiden Gebräuen und kleinen, halbierten Scones mit Marmalde und Clotted Cream drauf wiederzukommen. Dann gibt sie uns verdankenswerter Weise wieder ein paar Minuten, dass wir gemütlich Teatime haben können. Doch dann geht es zur Sache: Was wollt ihr morgen zum Frühstück (ich: Speck und Eier, Julia: Nichts Gekochtes)? Habt ihr schon einen Tisch im örtlichen Pub reserviert (nein – dann greift sie gerade selbst schnell zum Telefon und macht das für uns)? Wisst ihr schon wie die morgige Tagesetappe aussieht (dann folgt natürlich sofort ein entsprechendes Briefing)? Braucht ihr Sandwiches morgen (wir schlagen das dritte Mal auf dieser Reise dieses Angebot nicht aus)? Dann führt sie uns in den Garten. Dort stehen zwei aneinandergebaute Bungelows. Wirklich sehr süss. Vor allem ein breites Bett!!! Wir sind glücklich, aber merken nun auch, dass wir heute viel mehr eine Runde Sport, als dass wir einen Entspannungspaziergang gemacht haben. Ich auf alle Fälle, spüre meine Beine – keine Blasen, keinen Muskelkater. Aber eben: Wir haben etwas gemacht…
Anmekung Julia: Auch ich merke, dass ich heute eher Sport getrieben habe! Meine linke Wade hat ein bisschen Zug drauf, aber auch keinen Muskelkater. Hingegen geht es meiner Blase am kleinen Zehen viel besser. Das Blasenpflaster hat super geholfen. Ich habe dann noch zwischen dem kleinen und dem zweitkleinsten Zehen ein Stück eines Schwamms geklebt, um den Druck wegzunehmen. Auf der heutigen Etappe hat es funktioniert! Aber das Tape, auch wenn es für alles Mögliche einsetzbar ist, hat es mir ein paar Probleme bereitet. Ich habe es abgenommen, ging duschen. Danach sagte Sämi zu mir: „Du wurdest ja an den Knien voll verstochen!“ „Nein, das ist eine allergische Reaktion auf den Klebstoff des Tapes…!“ Meine Knie müssen es noch 3 Tage erdulden!
Wir hatten erst auf halb 8 Uhr einen Tisch im Pub bekommen. Es hiess, es sei heute Steak Night und somit kommen Leute von nah und fern, um dieses Happening zu erleben. An der Bar werden unsere Getränkewünsche aufgenommen. Danach werden wir zu unserem Tisch geführt. Am Tisch neben uns sitzen alte Bekannte – das ältere Ehepaar aus Manchester! Wir hatten sie schon seit 2 Tagen nicht mehr gesehen! Sie sind heute Morgen schon um 8 Uhr losgelaufen, da sie eine solche Panik vor der langen Wanderung hatten. Andere Wandergruppen hatten gestern noch ein paar Kilometer angehängt, damit sie heute nicht die ganze Etappe laufen müssen, andere wiederum diksutierten schon, ob sie für ein Teilstück den Bus nehmen sollten. Wir haben nämlich auf unserer heutigen Etappe fast niemanden angetroffen. Als wir einmal stehen blieben, da wir uns entscheiden mussten, ob wir nach der App oder nach dem Weg, der im Buch beschrieben ist, laufen sollen, kam die Deutsche den Weg entlang. Sonst sahen wir während den 37 Kilometern keine bekannten Gesichter. Umso freute es uns die aus Manchester heute Abend wiederzusehen.
Wie macht ihr es eigentlich mit dem übrigen Gepäck, das nicht im Tagesrucksack ist?
Juli 11, 2019 um 11:33 am
Wir sind in den Ferien: Die Firma, über die wir den B&B reserviert haben, hat auch einen Gepäcktransportservice. Die gibt es hier in England auf vielen Trails und funktionieren wie Sammeltaxis
Juli 11, 2019 um 8:15 pm
Das andauernde Kirchenglockengeläute könnte von einer Übungssession herrühren. Hab ich schon öfters erlebt (erhört? 🤔).
Juli 11, 2019 um 5:39 pm