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Runter geht es immer – irgendwie

(Werte nach Sämi)

Distanz: 26.06 km

Dauer: 7h31

Durchschnittsgeschwindigkeit: 3.5 km/h

Temperatur: 21 Grad

Viehzäune überquert: 25

Es ist manchmal doch seltsam: Wir beobachten Leute, die wir am Abend für nicht erwähnenswert einstufen. Und dann geschehen plötzlich lustige Zufälle, die wir Euch dann etwas länger berichten müssen. So auch die Sache, dass uns seit St Bees ein anderer Schweizer auf den Fersen ist (und wir es bis vor wenigen Stunden nicht wussten). Aber wie immer der Reihe nach. Heute war für uns eine Premiere: Wir schlugen das Sandwich für den Weg nicht aus. Der Grund lag nicht nur in der unglaublichen Liebeswürdigkeit unserer Gastgebern. Sondern auch darin, weil wir heute über die ganze Strecke hinweg nicht an einem Pub oder ähnlichem vorbeikommen würden. Unsere Gastgeber hatten in einem Zimmer eine Art Bar mit Bier, Gin und vielen kleinen Notwendigkeiten für diesen Weg – Paracetamol, Zahnbürsten, Wasser, Schokoriegel usw. Daneben bereiteten sie alles selbst aus lokalen Produkten zu. Die Gänge waren gepflastert mit selbstgemachter Marmalade. So konnten wir die Sandwiches gar nicht ausschlagen. Wir würden später noch sehen, dass das eine sehr kluge Entscheidung war. Im Morgenessraum waren ein paar Leute bereits am Frühstücken. Ein Paar aus Cambridge und Holländer (die gibt es hier wirklich in einer Masse, dass man es kaum glauben kann). Anmerkung Julia: Sämi ass wie üblich sein Rührei mit Speck und ich ein Müsli und Toast. Dieses Mal wurden aber ganz wenige Toast auf den Tisch gestellt. Deswegen bestellte ich mir nochmals eine Portion. Sämi wurde dabei ganz zappelig, da es eine Weile ging, bis die Toast gebracht wurden und natürlich bis ich sie gegessen hatte. Aber ich musste mich ja schliesslich für die anstehende Etappe stärken.

Wir waren nicht die schnellsten heute Morgen und so liefen wir erst um 09.30 ab. Das Tagesziel – Shap – 24km vor uns. Der höchste Punkt der gesamten traditionellen Route – den 778 Meter hohen Kidsty Pike – 8km vor uns. Uns so durften wir gerade als Erstes am Morgen Höhenmeter fressen. Auf dem Weg geschah wieder einmal eine lustige Annekdote: Julia lief ein paar Meter vor mir. Plötzlich meinte sie, dass sich im Farm direkt neben ihr etwas bewegt hat. Lakonisch bemerke ich, dass das Farn sicher gleich los blöken würde. Kaum bin ich daran vorbei, hören wir das von mir angekündete MÄÄÄHHHH! Ein weisser Kopf streckt sich in die Höhe und schaut aus dem Farn….

Als wir ein erstes Hochplateau erreichten, war da auf einmal wieder der einsame Wanderer. Wir hatten ihn schon in Ennerdale Bridge gesehen. Abends hatte er am Tisch hinter uns gegessen und morgens haben wir gesehen, dass er dort im Garten des Pubs sein Zelt aufgebaut hatte. Wir gaben ihm damals den Übernamen Bruder Klaus, weil er (zwar jünger als wir) den Eindruck machte, als sei er auf der Pilgerreise nach Santiago – hätte sich aber hierher verlaufen. Bruder Klaus sprach uns heute an – auf Berndeutsch!!! Er ist locker unterwegs – hat einfach ein paar Tage nach uns einen Rückflug gebucht, keine B&Bs vorreserviert, hat für Notfälle das Zelt dabei, hat keinen festen Laufplan. An dieser Stelle mach ich eine geistige Notiz an mich selbst: Nicht nur wir beobachten – wir werden auch beobachtet (Notiz 2: Mittel gegen Verfolgungswahn bestellen).

Der Weg verlangt einiges ab. Die letzten Tage haben ehrlicherweise schon etwas Kraft gekostet. Durch den Gedanken beseelt, dass dies der letzte wirklich harte Peak auf der ganzen Tour sein wird , reissen wir uns aber zusammen und erreichen um 12:09 Uhr den Gipfel. 8km geschafft. Zwei Holländer sind oben und lassen ihre Drohne fliegen um ein paar Videoaufnahmen zu machen – ich finde es schon noch cool, Julia meint: „völlig unnötig!“ Wir beschliessen eine Rast einzulegen. Der Wind hatte die letzten Stunden uns hart und kalt angeblasen. Nun suchen wir auf einem exponierten Hügelgipfel etwas Schutz und essen die ersten Sandwiches. Zwei weitere Holländer treffen ein. Es ist spannend: Der Weg wird von Engländern und Holländer stark begangen. Andere Nationen treffen wir nur sporadisch an. Die Aussicht ist fantastisch: Hinter uns liegen die Hügel des Lake District. Vor uns die grosse Ebene, die es morgen zu durchqueren gilt. In der Ferne zeichnen sich die Hügel der Yorkshire Dales ab. Unter uns: grüne Wiesen und Seen. Ein obligates Gipfelselfie steht auf dem Programm.

Der Abstieg steht an. Innerhalb von 2km verlieren wir fast alle gewonnen Höhenmeter wieder. Die Erfahrungen der letzten Tage zahlen sich aber aus. Wir erwarten Steine, Felsen und Krakselstellen. Und wir werden nicht enttäuscht. Es ist wirklich ein harter Kampf nach unten. Wir schlagen unsere Füsse an. Und unsere Gelänke werden gefordert. Doch auf den letzten 200 Meter treffen wir plötzlich auf grüne Wiesen, die wir wie junge Rehe runterspringen (Ja, Julia rennt plötzlich einen Berg hinab und ich bin ausnahmsweise mal die Stimme der Vernunft). Die beiden aus Cambridge, die heute Morgen bestimmt eine halbe Stunde vor uns gestartet sind, holen wir dabei ein.

Nun freuen wir uns auf einen entspannten Spaziergang von 8km dem See entlang. Doch irgendwie unterschätzen wir im Moment das Terrain immer. Es werden äusserst anspruchvolle 8km – sehr vergleichbar mit der Etappe des West Highlandways entlang des Loch Lomonds. Überhaupt werden wir auf den ersten 16km immer wieder an Schottland erinnert. Die Pflanzenwelt besteht aus Disteln, Löwenzahn, Farnen und den violetten namenlosen Dingern, die überall den Weg säumen. Anmerkung Julia: Ich bewundere immer wieder die vielen Blumen, die mich ein Stückchen auf dem Weg begleiten. Vor allem beim Löwenzahn muss ich immer wieder Lächeln, da ich letzten Monat eine Abschlussprüfung im Fach Zeichnen über den Löwenzahn gemacht habe.

Der Weg fordert die ersten Opfer bei uns: Julias Knie zicken etwas herum, bei mir gibt es ein Loch im seitlichen Schutzleder des Wanderschuhes. Wir begegnen keiner Menschenseele mehr. Die Natur wandelt sich unheimlich rasch und wir dürfen einem kleinen Fuss durch grüne Wälder folgen. Seit Tagen haben wir keine Beschilderung des Coast to Coast Ways mehr gesehen. Jetzt gibt es tatsächlich ab und zu einen Wegweiser. Meist steht schlicht C2C drauf – wie ein geheim Code, der nur Eingeweihte nach einem Schweigegelübte kennen. Wir überqueren Felder und Wiesen, alte Steinbrücken und viele Zäune, durch Schafsherden und Kuhgruppen. Anmerkung Julia: Plötzlich führte eben unser Weg quer über eine Wiese, die voll von Schafen und Kühen war. Wir mussten ganz nah an den Kühen vorbei gehen. Mir war da nicht mehr so wohl. Sämi meinte dann: „Komm, schliess zu mir auf! Wir müssen geschlossen an der Herde vorbei.“ Ich versuchte immer im gleichen Rhytmus zu laufen. Auf der Höhe der Kühe, hörte ich ein Schnauben. Mir kam die Situation des Yellow Stones in den Sinn, als wir ziemlich nahe vor einem Bison-Bullen standen und er uns anschnaubte und wir ziemlich schnell den Rüchzug antraten.

Und irgendwann erreichen wir Shap. Wir sind froh. Die letzten Kilometer waren doch hart und haben vor allem geistig einen höheren Tribut als Gedacht gefordert. Das schwierige Terrain entlang des Sees war nicht ohne. Direkt am Eingang zu Shap (was überigens ein extrem langgezogenes Bauerndorf, mit zwei Hotels, einem Pub, zwei Stores, einem Feuerwehrauto (dieses hat Julia nicht gesehen!), einer Schule ist) gehen wir in einen kleinen Laden. Anschliessend stellen wir zu unserem Entsetzen fest, dass unser B&B ganz am anderen Ende des Dorfes liegt. So kommen wir in den Genuss von fast 2km Extralaufen. Julias Gesicht drückt nicht gerade viel Freude aus. Vielmehr sieht es so aus, als wäre ein Säbelzahntiger mit einem Hummer gekreuzt worden: Hoch rot und wirklich furchteinflössend. Anmerkung Julia: Ich dachte, ich wäre jetzt dann gleich im Zimmer und unter der Dusche. Aber nein, ich musste laufen und laufen. Ich schaute immer wieder auf die Namensschilder der Häuser und keines hiess so wie unser B&B. Ich hätte mir sehnlichst einen Kaffee gewünscht. Sämi hat dann plötzlich einen Zug drauf und ich trotte hinterher und habe dann aber auch überhaupt keine Lust für irgendwelche Gespräche.

Dafür ist unsere Gastgeberin heute wieder eine grosse Show: eine ältere Dame, die uns (richtig englisch) zu Kaffee und Tee mit Scones einlädt. Sie lässt uns zuerst frisch machen und erwartet uns dann fast ungeduldig.

Am Abend treffen wir beim Abendessen nochmals Bruder Klaus. Er sitzt alleine und macht sich in einem kleinen Büchlein wie ein Reporter Notizen. Er wird einen Tag hier in Shap Pause einlegen. Damit auch ihm: alles Gute auf dem weiteren Weg.

Keine Neuigkeiten haben wir von den Manchstern. Wir machen uns schon etwas Sorgen. Falls sie den heutigen Tag überhaupt angetreten haben, dürfte es für sie nochmals sehr hart geworden sein – denn für uns war es ein harter Tag.

Auch wenn der Tag sehr hart war, geht es uns körperlich immer noch gut. Der Muskelkater bleibt nach wie vor aus. Ich pflege meine kleinen Zehen jeden Morgen. Im Moment kleben Compeed-Pflaster darauf. Wenn ich eingelaufen bin, spüre ich sie fast nicht mehr!

Eine Antwort

  1. Die „violetten namenlosen Dinger“ sind, wenn es diese auf dem Foto weiter unten sind, Fingerhut bzw. Digitalis purpurea oder wie sie hier genannt werden: fox glove. Auch Devon ist um diese Jahreszeit voll damit 😍

    Juli 6, 2019 um 5:46 pm

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